UDL als Hilfsmittel zur Gestaltung diversitätssensiblen Fremdsprachenunterrichts

Thomas Müller & Stewart Campbell, Mai 2024

Die ISSN dieser Online-Publikation lautet 2569-6068.

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Abstract

Diversitätssensibler Fremdsprachenunterricht stellt für viele Lehrpersonen eine große Herausforderung dar. Das Universal Design for Learning (Center for Applied Special Technology, 2018) sowie darauf aufbauende Leitlinien für den Fremdsprachenunterricht (Felix et al., 2023) stellen ein Hilfsmittel dar, um diese Herausforderung besser bewältigen zu können. Der Text zeigt auf, wie mit Hilfe eines zyklischen Vorgehens der Fremdsprachenunterricht diversitätssensibler geplant, reflektiert und weiterentwickelt werden kann. Er zeigt aber auch klar auf, dass das vorgestellte Hilfsmittel fachdidaktische Kompetenzen nicht ersetzen kann, sondern die kompetente Anwendung fachdidaktische Kenntnisse voraussetzt.

Ausgangslage

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2008 von Österreich, 2009 von Deutschland und 2014 von der Schweiz ratifiziert worden ist, legt fest, dass alle Menschen Zugang zu einem „integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen“ haben sollen (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung, 2018, S. 21). Menschen mit Behinderungen sollen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung erhalten, um erfolgreich gebildet werden zu können. Um für eine gerechtere Gesellschaft zu sorgen, sollen alle Lernenden am (Fremdsprachen-)Unterricht teilnehmen und davon profitieren können.

Die Anforderungen des Fremdsprachenunterrichts gehen jedoch über ein eher enges Verständnis des Inklusionsbegriffs (d.h. der Inklusion von Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf) hinaus. Timpe-Laughlin und Timpe (2019) beschreiben dieses erweiterte Inklusionsverständnis wie folgt: „In fact, cultural, political, and educational changes have altered the mix of students in today’s classrooms to the extent that one classroom might include students with a migration background, students with diverse linguistic and cultural backgrounds, students with emotional, behavioural, attentional, and social issues, as well as students with visual, motor, speech, or learning disabilities” (S. 161). Das Zitat ist dabei keinesfalls rein defizitorientiert zu betrachten: Offensichtlich ist, dass unterschiedliche kulturelle Hintergründe sowie Migrationshintergrund beim Fremdsprachenlernen als Ressourcen zu betrachten sind. Doch auch eine heterogene Zusammensetzung in Bezug auf weitere Diversitätsmerkmale ist nicht als Problem, sondern vielmehr als Chance zu betrachten. Demzufolge umfasst ein diversitätssensibler Fremdsprachenunterricht mehrere Variabilitätsmerkmale der Lernenden, die für das Erlernen einer Fremdsprache wie Englisch relevant sind.

Vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Sichtweise des Lernens wird davon ausgegangen, dass das Erlernen einer Fremdsprache ein sehr individueller Prozess ist, bei dem man durch seine Interaktionen mit der Umwelt lernt. Das bedeutet, dass die Lernenden eine komplexe Vielfalt an Hintergründen, Fähigkeiten, Vorkenntnissen, Erfahrungen, körperlicher, emotionaler und intellektueller Entwicklung, Motivation usw. aufweisen.

Die Berücksichtigung all dieser Faktoren stellt für viele Lehrkräfte eine anspruchsvolle Aufgabe dar. Stark heterogene Lerngruppen zu unterrichten, ist per se schon eine Herausforderung, beim Fremdsprachenunterricht kommen aber noch sprachspezifische Herausforderungen hinzu (Frank Schmid & Müller; 2023). Entsprechend müssen Wege und Mittel gesucht werden, um diversitätssensiblen Fremdsprachenunterricht anbieten zu können.

Der Ansatz des Universal Design for Learning, kurz UDL (Meyer et al., 2014) kann bei dieser Aufgabe helfen. Er wurde von verschiedenen Autoren wie Böhm (2023), Böhm, Schildhauer & Zehne (2021) und Timpe-Laughlin & Timpe (2019) für den Fremdsprachenunterricht spezifiziert. Eine besonders umfangreiche Spezifizierung stammt von Felix et al. (2023). Im vorliegenden Text soll zunächst der Ansatz des UDL und anschließend das für den Fremdsprachenunterricht spezifizierte Hilfsmittel von Felix et al. (2023) kurz vorgestellt werden. Anschließend wird dessen Anwendung für die Planung, Reflexion und Weiterentwicklung von Unterricht beschrieben. Eine kritische Reflexion bezüglich der Chancen, aber auch Grenzen und Risiken des Einsatzes von UDL im Fremdsprachenunterricht, schließt den vorliegenden Text ab.

Das Universal Design for Learning

Eine Hilfestellung für die Gestaltung eines diversitätssensiblen Unterrichts über alle Stufen und Fächer hinweg bietet das sogenannte Universal Design for Learning (Meyer et al., 2014). Dessen Ziel besteht darin, den Unterricht so zu gestalten, dass möglichst alle Lernenden daran teilhaben können. Das Grundprinzip entstammt dabei der Architektur: Genauso wie bei Gebäuden auf eine möglichst barrierefreie Gestaltung geachtet werden muss (beispielsweise durch die Verwendung von Rampen statt Treppen), soll auch bei der Gestaltung von Lernsettings darauf geachtet werden, unnötige Lernbarrieren zu verhindern.

Lernbarrieren sind also im Verständnis von UDL nicht bei einer einzelnen Person zu suchen, sondern entstehen viel mehr in der Interaktion von einem Individuum mit dessen Umfeld: Genauso wie eine Person, welche einen Rollstuhl nutzt, erst behindert wird, wenn sie eine Treppe bewältigen soll, wird eine Person mit Leseschwäche erst dann behindert, wenn sie (im Unterricht) mit einer entsprechenden Anforderung konfrontiert wird. Hinter UDL steht also ein Behinderungsverständnis, wie es auch im bio-psycho-sozialen Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) dargestellt wird (World Health Organization, 2007).

Dieses Verständnis impliziert auch, dass durch die Veränderung der Umwelt allfällige negative Auswirkungen einer Beeinträchtigung der Körperfunktionen und/oder Strukturen minimiert werden können: Genauso wie der Bau einer Rampe sicherstellt, dass trotz Paraplegie der Zugang zu Gebäuden sichergestellt ist, führt der Einsatz von Unterstützungsmaßnahmen, wie zum Beispiel der Verwendung von einfacher Sprache, Visualisierungshilfen und einem Text-to-Speech-Programm dazu, dass auch bei vorhandener Leseschwäche der Zugang zu Texten gewährleistet ist.  Und genau so, wie die Rampe den Zugang für Personen mit Rollstuhl, wie auch mit Kinderwagen, Einkaufswagen oder Rollerblades ermöglicht, können Texte in einfacher Sprache sowohl für Personen mit Leseschwäche als auch für Menschen mit einer anderen Erstsprache oder Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung die Teilhabe erleichtern.

In Bezug auf das Lernen gilt es allerdings zu bemerken, dass nicht jede Schwierigkeit oder Herausforderung als Lernbarriere interpretiert werden darf, sondern durchaus auch Lerngelegenheit sein kann: So stellt das Lesen von anspruchsvollen Texten zwar für viele Menschen eine Herausforderung dar, die jedoch auch dazu genutzt werden kann, diese Kulturtechnik zu erlernen. Meyer et al. (2014, S. 89) drücken das so aus:

By ‘learning’ we mean that all individuals are challenged and supported in meaningful ways to grow toward expertise as learners. UDL is not intended to make learning easy; indeed, learning should always appropriately challenging, offering up what Robert Bjorks calls ‘desirable difficulties.’ It does not contain unnecessary and irrelevant barriers to learning that are actually caused by inflexible media and methods, but it does contain appropriate challenges in the areas germane to the learning goal.

UDL verfolgt also nicht das Ziel, den Lernenden alle Ansprüche aus dem Weg zu räumen, sondern unnötige Lernbarrieren zu minimieren, damit die Lernangebote in der Zone der nächsten Entwicklung (Vygotskij, 1987) liegen. Lediglich Anforderungen, die zum Erreichen des Lernzieles irrelevant sind, sollen dabei minimiert werden.

Ein zentrales Instrument um solche Lernbarrieren zu minimieren sind die sogenannten UDL-Guidelines, die vom Center for Applied Special Technology (CAST; 2018) herausgegeben und auf der entsprechenden Website auch kostenfrei in unterschiedlichen Sprachen zum Download angeboten werden.

Abbildung 1: Die UDL-Guidelines in deutscher Sprache (CAST, 2023)

Wie der Abbildung entnommen werden kann, sind diese UDL-Guidelines oder zu Deutsch „Leitlinien“ in Form einer Matrix mit drei Spalten angeordnet. Diese drei Spalten entsprechen den drei übergeordneten Prinzipien von UDL:

  1. Biete verschiedene Möglichkeiten von Lernengagement.
  2. Biete multiple Mittel der Repräsentation von Informationen.
  3. Biete multiple Mittel für die Informationsverarbeitung und die Darstellung von Lernergebnissen.

Diese drei übergeordneten Prinzipien werden dann weiter unten im Dokument in je drei Leitlinien konkretisiert. Beispielsweise wird die Leitlinie zur multiplen Repräsentation von Informationen (mittlere Spalte in violett) in folgende drei Leitlinien konkretisiert:

  • Biete Wahlmöglichkeiten bei der Perzeption.
  • Biete Wahlmöglichkeiten für Sprache und Symbole.
  • Biete Wahlmöglichkeiten für das Verständnis.

Diese insgesamt neun Leitlinien werden schließlich noch einmal konkretisiert mit jeweils zwei bis fünf sogenannten Prompts[1], die genauer beschreiben, worauf es konkret zu achten gilt, um der entsprechenden Leitlinie (besser) gerecht werden zu können. So wird die Leitlinie „Biete Wahlmöglichkeiten bei der Perzeption“ anhand der folgenden drei Prompts konkretisiert:

  • Darstellung von Informationen anpassen
  • Alternativen für auditive Informationen anbieten
  • Alternativen für visuelle Informationen anbieten

Die strukturierte Auflistung von Leitlinien und Prompts kann und soll Lehrpersonen dabei helfen, Lernbarrieren im eigenen Unterricht zu entdecken und Ideen zu entwickeln, wie diese minimiert werden können. So könnte eine Lehrperson, welche ihren Unterricht mit Hilfe der UDL-Leitlinien reflektiert, zum Schluss kommen, dass vor allem die ausschließlich auditiv erteilten Arbeitsaufträge für eine bestimmte Schülerin Lernbarrieren darstellen. Sie könnte dann weiter zum Schluss kommen, dass sie solche Aufträge künftig durch den Einsatz von Bildern und Stichworten zu jedem Arbeitsschritt visuell unterstützen könnte und sich dazu entschließen, ihren zukünftigen Unterricht diesbezüglich zu optimieren.

Wie das obenstehende Praxisbeispiel zeigt, können die entsprechenden Leitlinien sowohl für die Reflexion einer vergangenen Unterrichtseinheit wie auch für die Planung einer bevorstehenden Unterrichtseinheit genutzt werden. In letzterem Fall werden bereits im Voraus Gedanken dazu gemacht, welche Lernbarrieren möglicherweise entstehen könnten, um diese bei der Unterrichtplanung mit Hilfe der Leitlinien präventiv zu minimieren.

Fremdsprachenspezifische Leitlinien als Spezifizierung von UDL

Die UDL-Leitlinien benennen mit den entsprechenden Prompts schon recht konkret, worauf es im Unterricht zu achten gilt; sie enthalten aber noch keinerlei fachdidaktisch ausgerichtete Hinweise zu deren konkreten Umsetzung. Genau hier setzen die frei verfügbaren, fremdsprachenspezifischen Leitlinien für den Fremdsprachenunterricht (Felix et al., 2023) an: Sie ergänzen die vorgegebenen Prompts mit konkreten Umsetzungsvorschlägen für den Fremdsprachenunterricht.

Den Ausgangspunkt des Instruments, welches als PDF-Dokument verfügbar ist, bildet die Übersicht der UDL-Leitlinien und Prompts (vgl. Felix et al., 2023). Auf dieser Übersicht sind sämtliche Prompts verlinkt. Klickt man auf einen Prompt, so gelangt man direkt auf eine Seite, auf welcher Ideen zur Umsetzung des entsprechenden Prompts im Fremdsprachenunterricht zu finden sind.

Abbildung 2: Auszug aus den fremdsprachenspezifischen Leitlinien zum Fremdsprachenunterricht (Felix et al., 2023)

Wie Abbildung 2 zeigt, besteht die entsprechende Seite im Wesentlichen aus drei Abschnitten:

  1. Als Seitentitel wird der gewählte Prompt genannt.
  2. Darunter werden in einem grauen Kasten Umsetzungsmöglichkeiten genannt, welche sich sowohl für den Fremdsprachenunterrichts als auch für den Unterricht in anderen Fächern eignen. Sie entstammen zumeist der Website von CAST.
  3. In einem dritten Teil werden dann Umsetzungsvorschläge genannt, welche sich unmittelbar für den Fremdsprachenunterricht eignen.

In der Kopf- wie auch der Fußzeile des Instruments befinden sich dann wiederum Links, um zur Übersichtsseite zurückzugelangen und hier je nach Bedarf einen weiteren Prompt anklicken zu können.

Es handelt sich beim Instrument also um eine umfangreiche, aber keineswegs abschließende Ideensammlung für die Gestaltung von inklusivem Fremdsprachenunterricht, welche entlang der Leitlinien und Prompts von UDL strukturiert ist. Die Ideen entstammen hierbei fachdidaktischer, sonderpädagogischer, sprachheilpädagogischer und zum Teil auch allgemeindidaktischer Fachliteratur.

Das Instrument ist als Hilfsmittel zur Gestaltung eines inklusiven Fremdsprachenunterrichts zu verstehen; insbesondere soll es die Lehrpersonen beim Suchen und Finden von Ideen für die inklusive Unterrichtsgestaltung unterstützen. Keineswegs kann es aber das pädagogische Geschick von Lehrpersonen ersetzen: Eine erfolgreiche Anwendung des Instruments bedingt, dass die Ideen nicht einfach zufällig, sondern passend zur jeweiligen Situation ausgewählt und auf den jeweiligen Kontext hin adaptiert werden. Es ist nach wie vor die Aufgabe der Lehrperson, die Lehr- und Lernsituation zu analysieren und den Unterricht auf Basis dieser Analyse zu planen, durchzuführen und zu evaluieren. Wie dies geschehen kann, wird im folgenden Abschnitt beschrieben.

Anwendung der Leitlinien im Berufsalltag: Vorschlag eines zyklischen Vorgehens

Aus den vorhergehenden Erläuterungen wird deutlich, dass die fremdsprachenspezifischen Leitlinien nicht bloß als Ideenkatalog zu verstehen sind, sondern dass deren Strukturierung darüber hinaus helfen kann, ausgewählte Unterrichtssituationen auf allfällige Lernbarrieren hin zu untersuchen und dann spezifisch darauf ausgerichtete Maßnahmen zu treffen, um die vorhandenen Lernbarrieren zu minimieren.

So können die Leitlinien als Hilfsmittel für die Unterrichtsplanung genutzt werden, indem sich Lehrpersonen im Voraus Gedanken über potenzielle Lernbarrieren machen und diese präventiv beseitigen. Sie können aber ebenso als Reflexionsinstrument genutzt werden, um Lernbarrieren in einer vergangenen Unterrichtseinheit zu identifizieren und daraus Schlüsse für die weitere Gestaltung des Unterrichts zu ziehen. Schließlich kann das Instrument, wenn es regelmäßig angewendet wird, auch für die Unterrichtsentwicklung genutzt werden, indem es immer wieder als Reflexionsinstrument genutzt wird, beispielsweise für die Zusammenarbeit in Unterrichtsteams oder für die Besprechung von Unterrichtsbesuchen.

Unabhängig davon, ob die Leitlinien als Hilfsmittel für die Unterrichtplanung, die Unterrichtsreflexion oder die Unterrichtsentwicklung genutzt werden, schlagen Felix et al. (2023) ein fünfschrittiges Vorgehen vor. Im Rahmen der Erarbeitung der vorliegenden Publikation wurde dieses fünfschrittige Vorgehen von den beiden Autoren leicht adaptiert und in Form eines sich wiederholenden Zyklus dargestellt (vgl. Abbildung 3).

Abbildung 3: Vorschlag für eine mögliche Nutzung der fremdsprachenspezifischen Leitlinien zur Planung und Reflexion diversitätssensiblen Fremdsprachenunterrichts in Anlehnung an Felix et al. (2023).

Im Folgenden sollen die fünf Schritte etwas detaillierter dargestellt werden.

Schritt 1: Lernbarrieren identifizieren

In einem ersten Schritt sollen potenzielle Lernbarrieren identifiziert werden. Dazu ist es wichtig, dass sich die Lehrperson bewusst ist, dass Lernbarrieren nicht bei den Lernenden zu suchen sind, sondern in der Interaktion von persönlichen Lernvoraussetzung mit dem Unterrichtssetting entstehen (vgl. Ausführungen weiter oben). Die zentrale Frage lautet deshalb: Was beeinträchtigt (einzelne) Lernende in der Teilhabe am Unterricht? Entsprechend gilt es beim Sammeln dieser Lernbarrieren zu beachten, dass nicht nur bestimmte Defizite oder gar Diagnosen von Lernenden genannt werden, sondern diese in Bezug zu setzen mit dem Unterrichtssetting. Denn nur aus der Interaktion von Unterrichtssetting und persönlichen Voraussetzungen können Lernbarrieren entstehen. Und nur das  Unterrichtssetting ist durch Unterrichtende unmittelbar beeinflussbar.

Empfehlenswert ist bei dieser Sammlung auch, die Perspektive der Lernenden einzubeziehen. Es bietet sich an, die Frage nach Lernbarrieren regelmäßig auch an die Lernenden zu richten, und gemeinsam mit ihnen zu diskutieren. Sie wissen oft am besten, was sie im Lernen behindert.

Sind entsprechende Lernhindernisse gesammelt, gilt es zu überprüfen, ob es sich hierbei tatsächlich um unnötige, lernbehindernde Barrieren handelt, oder ob es sich hierbei möglicherweise um bewältigbare, erwünschte Herausforderungen und damit letztendlich um Lerngelegenheiten handelt. Und es gilt bei den verbleibenden, unnötigen Lernbarrieren Prioritäten zu setzen: Die beschränkten zeitlichen Ressourcen, die für die Planung, Vorbereitung, Durchführung und Evaluation von Unterricht zur Verfügung stehen, sollen bewusst eingesetzt werden. Deshalb soll auch bewusst eine Fokussierung auf einige wenige, besonders zentral erscheinende Lernbarrieren erfolgen.

Schritt 2: Lernbarrieren verorten

In einem zweiten Schritt soll mit Hilfe der Übersicht über die Leitlinien und Prompts (vgl. ) überlegt werden, in welchen Prompts die gefunden Lernbarrieren am besten verortet werden können. Die Zuordnung ist meistens nicht eindeutig und so können für eine einzelne Lernbarriere auch verschiedene Prompts in die weitere Bearbeitung einbezogen werden.

Als Nächstes können die zum ausgewählten Prompt vorgeschlagenen Umsetzungsmöglichkeiten studiert werden. Daraus entsteht eine erste Ideensammlung von möglichen Maßnahmen zur Reduktion der Lernbarriere.

Schritt 3: Ideen auswählen und adaptieren

Nun werden die Umsetzungsideen auf ihre Eignung für das ausgewählte Unterrichtssetting hin überprüft. Die Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Klassengröße, Klassenstufe, Klassenzusammensetzung, und Inhalt der entsprechenden Unterrichtseinheit aber auch die vorhandene (oder nicht vorhandene) Vorbereitungszeit von Seiten der Lehrperson schränken die Wahl möglicher Umsetzungsideen bereits ein. So ist es nicht nur zulässig, sondern durchaus auch wünschenswert, frühzeitig Umsetzungsideen zu verwerfen, die aufgrund ihres großen Vorbereitungsaufwandes nicht realisierbar sind.

Ein besonderes Augenmerk soll auch der Zielsetzung der entsprechenden Unterrichtseinheit gelten: Es muss überprüft werden, inwiefern die Minimierung der Lernbarrieren das Erreichen dieser Zielsetzung beeinträchtigt. Auf eine solche ist im Bereich des zielgleichen Lernens zu verzichten, da davon auszugehen ist, dass mit der entsprechenden Umsetzungsidee nicht nur Lernhindernisse, sondern auch Lerngelegenheiten minimiert würden (vgl. Ausführungen weiter oben). So wäre es beispielsweise nicht zielführend, einen anspruchsvollen fremdsprachlichen Text durch ein Erklärvideo zu ersetzen, wenn in der Unterrichtseinheit am Leseverständnis gearbeitet werden soll. Wenn hingegen das Ziel darin besteht, sich die im Text enthaltenen Informationen anzueignen, wäre eine solche Anpassung durchaus passend, da das Ziel durch den Einsatz des Erklärvideos nicht beeinträchtigt wird.

Im Falle von zieldifferentem Lernen muss als Vergleichsmaßstab nicht das Ziel der entsprechenden Unterrichtseinheit, sondern das individuelle Ziel der Lernenden herangezogen werden. Beispielsweise ist es bei einem Lernenden, bei welchem vor allem der Erwerb von Kompetenzen im Bereich der mündlichen Kompetenzen (Hören & Sprechen) im Fokus steht, durchaus zielführend, den Text durch ein entsprechendes Erklärvideo zu ersetzen, auch wenn für den Rest der Klasse Lesekompetenzen im Zentrum stehen.

Die verschiedenen Ideen werden so auf ihre Passung zu den angestrebten Kompetenzen geprüft und am Ende resultieren einige Umsetzungsideen. Möglicherweise entstammen diese den fremdsprachenspezifischen Leitlinien, möglicherweise entstammen diese aber auch dem eigenen Ideenfundus. Sollten keine solchen Ideen gefunden werden, so kann auch noch einmal zum vorhergehenden Schritt zurückgegangen werden. Möglicherweise können die Lernbarrieren noch in weiteren Prompts verortet werden, bei denen dann vielleicht geeignetere Umsetzungsideen gefunden werden können. Hilfreich kann es aber auch sein, dass Lehrkräfte aus dem Team um Rat zu fragen, denn die Sammlung an Umsetzungsideen im Instrument ist keinesfalls als abschließend zu betrachten.

Die gesammelten Ideen müssen nun noch auf die entsprechende Unterrichtseinheit angewendet werden: Die Vorbereitung der entsprechenden Lektionen und der hierbei benötigten Arbeitsmaterialien ist oft mit viel Aufwand verbunden. Deshalb lohnt es sich einerseits, bereits bei der Auswahl der entsprechenden Unterrichtsmethoden das Kriterium des Vorbereitungsaufwandes einzubeziehen und andererseits auch zu überlegen, inwiefern die Unterrichtsvorbereitung auch in Unterrichtsteams vorgenommen werden kann. Zudem gilt es zu beachten, ob der Vorbereitungsaufwand mit Hilfe von bestehenden, frei verfügbaren Materialien oder durch den Einsatz digitaler Tools minimiert werden kann.

Schritt 4: Ideen umsetzen

Bei der Durchführung der entsprechenden Unterrichteinheit gilt es, diagnostisch sensibel zu sein: Welche Lernbarrieren können wie geplant minimiert werden und welche neuen kommen allenfalls hinzu? Entsprechende Beobachtungen und Überlegungen können einerseits für die spontane Adaptation des Unterrichts, andererseits aber auch für die nachfolgende Phase der Evaluation genutzt werden.

Schritt 5: Umsetzung evaluieren

In einem letzten Schritt werden die gemachten Erfahrungen ausgewertet. Besonders bedeutend sind hierbei folgende Fragen:

  • Inwiefern haben die gewählten Methoden dazu beigetragen, Lernbarrieren zu reduzieren und Teilhabe zu ermöglichen?
  • Inwiefern konnte dadurch auch ein Kompetenzzuwachs begünstigt werden?
  • Wo war Teilhabe trotz der getroffenen Maßnahmen schwierig? Welche (neuen) Lernbarrieren wurden identifiziert?
  • Aufbauend auf diesen Beobachtungen und Überlegungen kann dann der geschilderte Zyklus ein weiteres Mal durchlaufen werden.

Alternative Zyklen zur Anwendung von UDL

Der vorangehend geschilderte Zyklus stellt nur eine von vielen möglichen Varianten zur Anwendung der Leitlinien im Fremdsprachenunterricht dar. Zur Illustration dieser vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten sollen exemplarisch zwei weitere Möglichkeiten einer Anwendung der Leitlinien im Fremdsprachenunterricht aufgezeigt werden und deren Bezug zum oben vorgeschlagenen Vorgehen benannt werden:

UDL Design Cycle von Rao und Meo (2016; aktualisiert in Rao, 2021)

Nach Rao (2021), integriert der UDL Design Cycle „the core components of commonly used instructional design models and processes, such as ADDIE[2] and Backwards Design“ (S. 3). Er umfasst den folgenden sechsstufigen Prozess: 1. die Berücksichtigung der Lerner:innenvariabilität, 2. die Festlegung klarer Ziele, 3. die Entwicklung von Assessments, 4. die Entwicklung flexibler Methoden und Materialien, 5. die Umsetzung einer UDL-basierten Lektion und 6. die Reflexion und Überarbeitung der Lektion (siehe Abbildung 4). Torres und Rao (2019) skizzieren in ihrem Monograph, UDL for Language Learners, wie der UDL Design Cycle im Fremdsprachenunterricht angewendet werden kann.

Abbildung 4: Der UDL Design Cycle nach Rao (2021, S. 4)

Die von Felix et al. (2023) und Rao und Meo (2016) vorgeschlagenen Unterrichtsdesignprozesse sind in vielerlei Hinsicht ähnlich. Beide liefern einzigartige Beiträge zu Unterrichtsgestaltungsprozessen, die das Erlernen von (Fremd-/Zweit-)Sprachen unterstützen können, indem sie Lehrkräften helfen, „learning environments that integrate varied supports to reduce barriers and increase meaningful access to learning for all“ herzustellen (Rao, 2021, S. 3). Dies geschieht, indem sie die Variabilität der Lernenden und die proaktive Integration von Hilfsmitteln zum Abbau von Barrieren, die sowohl durch den Lehrplan als auch durch den Unterricht verursacht werden können, berücksichtigen. Beide Verfahren gehen von den Lernenden und ihren unterschiedlichen Hintergründen und Bedürfnissen als Ausgangspunkt für die Gestaltung des Unterrichts aus. Zudem integrieren beide die Verwendung der UDL-Leitlinien als Instrument zur Unterstützung der Lehrenden bei der Identifizierung potenzieller Lern- und Leistungsbarrieren und bei der Auswahl von Strategien zur Schaffung besser zugänglicher Lernumgebungen und erfordern die Reflexion und Überarbeitung des Unterrichts in einem iterativen Entwicklungsprozess. Andererseits unterscheiden sich die beiden vorgeschlagenen Vorgehensweisen vor allem in der Explizitheit der Überlegungen zu den Lernzielen und den einzusetzenden Bewertungsverfahren: Während der UDL Design Cycle diesen Faktoren zwei spezifische Prozessschritte widmet, geht das Vorgehen von Felix et al. davon aus, dass die Lehrperson bereits einen Unterrichtsentwurf im Sinn hat und dass sie die UDL-Leitlinien in ihrem Zyklus berücksichtigen wird. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass der UDL Design Cycle auf das ADDIE-Modell und auf die Rückwärtsplanung basiert ist. Trotz dieser Unterschiede bieten beide eine klare und leicht umsetzbare Vorgehensweise bei der Unterrichtsgestaltung. Vor allem liefern sowohl Felix et al. (2023) als auch Torres und Rao (2019) konkrete Beispiele, anhand derer Sprachlehrende nachvollziehen können, wie die UDL-Leitlinien im Fremdsprachenunterricht angewendet werden können.

UDL als förderdiagnostisches Hilfsmittel

UDL im Allgemeinen und die fremdsprachenspezifischen Leitlinien im Speziellen eignen sich auch gut für die Anwendung im Rahmen eines förderdiagnostischen Vorgehens. So zeigen sich mehrere Parallelen zwischen sogenannt förderdiagnostischen Zyklen (vgl. z.B. Kunz et al., 2021; Müller & Joller-Graf, 2021):

  • Es handelt sich um ein zyklisches Vorgehen, das stetig wiederholt werden kann.
  • Die einzelnen Phasen finden idealtypisch zwar chronologisch hintereinander statt, ein Hin- und Herspringen zwischen einzelnen Phasen ist in der Praxis aber eher die Regel als die Ausnahme.
  • Im Kreislauf verbinden sich diagnostische Tätigkeiten (Schritte 1+2) mit der Planung (Schritt 3) und der Umsetzung von spezifischen Maßnahmen (Schritt 4) sowie deren Evaluation (Schritt 5). Damit werden mit dem Kreislauf alle Phasen abgedeckt, welche sich typischerweise in förderdiagnostischen Prozess- bzw. Kreismodellen zu finden sind (Moser Opitz, 2022, S. 209).
  • Zusätzlich gilt es zu bemerken, dass gerade jüngere Publikationen aus dem Bereich der Förderdiagnostik auch von einem bio-psycho-sozialen Behinderungsverständnis ausgehen, deshalb eine rein individuumsorientierte Diagnostik ablehnen und stattdessen die Bedeutung einer systemischen Kind-Umfeld-Analyse betonen (vgl. z.B. Hollenweger & Bühler, 2021; Kunz et al., 2021; Lienhard-Tuggener, 2014). Auch im Behinderungsverständnis erweisen sich also der förderdiagnostische Ansatz und UDL als kompatibel.
  • Konkret kann UDL vor allem in zwei Phasen eines förderdiagnostischen Vorgehens eingesetzt werden:
  • In der Phase der Diagnose kann die Checkliste dabei helfen, mögliche Lernbarrieren zu identifizieren. Die umfangreiche Sammlung an Prompts kann hierbei als Perspektivenöffner fungieren und auf Lernbarrieren aufmerksam machen, die einem sonst möglicherweise verborgen geblieben wären. Zudem weisen die Prompts auch unmittelbar auf das bio-psycho-soziale Behinderungsverständnis hin und verhindern so eine zu stark individuumsorientierte Diagnostik.
  • In der Phase der Förderplanung können die Prompts und insbesondere auch die Umsetzungsvorschläge Ideen für mögliche Fördermaßnahmen geben. Diese können sowohl durch sonderpädagogisches Fachpersonal also auch durch Fach- und Klassenlehrpersonen, möglicherweise auch durch weitere Beteiligte umgesetzt werden. Auch im Bereich der Förderplanung unterstützt UDL also eine systemisch orientierte Umsetzung.
  • UDL kann hierbei sowohl von Regellehrpersonen wie auch von sonderpädagogischem Fachpersonal förderdiagnostisch eingesetzt werden. In inklusiven Settings erfolgt die Anwendung im Idealfall in Kooperation: So können gemeinsame Besprechungen beispielsweise dazu genutzt werden, sich über mögliche Lernbarrieren sowie deren Reduktion auszutauschen, sei es bei der Unterrichtsreflexion oder bei der Unterrichtsplanung.

Kritische Reflexion zur Anwendung des Instruments

Die vorangehenden Erläuterungen haben gezeigt: UDL lässt sich im Fremdsprachenunterricht nicht nur entlang dem von Felix et al. (2023) beschriebenen Vorgehen anwenden. Die zwei alternativen Anwendungsmöglichkeiten sind auch keinesfalls als abschließende Aufzählung zu verstehen. Vielmehr gibt es eine Vielzahl an möglichen Vorgehensweisen, die situationsspezifisch ausgesucht und individuell adaptiert werden können. Insofern sollen die Leitlinien sowie der vorgeschlagene Zyklus auch keine bestehenden Reflexions-, Planungs- oder Unterrichtsentwicklungsmodelle ersetzen, sondern sie um einen diversitätssensiblen Blick erweitern. Nach Ansicht der Autoren lassen sich die einzelnen Schritte gut in bestehende Prozessmodelle zur Planung kompetenzorientierten Unterrichts integrieren, wie auch die Ausführungen zur Förderdiagnostik gezeigt haben.

Das Universal Design for Learning im Allgemeinen (CAST, 2018) und die fremdsprachenspezifischen Leitlinien im Speziellen (Felix et al., 2023) stellen hierbei mit ihrer übersichtlichen Darstellung und konkreten Formulierung von Leitlinien, Prompts und Umsetzungsideen ein für Lehrpersonen einfach zu handhabendes Instrument dar, um rasch konkrete Ideen für die Umsetzung von Inklusivem Fremdsprachenunterricht zu generieren. Die umfangreiche und theoretisch breit abgestützte Sammlung an Umsetzungsideen kann Lehrpersonen dabei helfen, neue oder zwischenzeitlich vergessene Unterrichtsmethoden gewinnbringend in den eigenen Unterricht zu integrieren. Wie Krause und Kuhl (2019) betonen, „[d]ie Etablierung des UDL in verschiedenen Fachdidaktiken kann für (angehende) Lehrkräfte […] den Vorteil haben, dass ein verbindendes Rahmenkonzept zum Lehren und Lernen in maximal heterogenen Lerngruppen für alle Unterrichtsfächer geschaffen wird, das Ordnung und Struktur in die z.T. unübersichtliche Vielfalt an fachdidaktischen Prinzipien und Handlungsempfehlungen bringen kann” (S. 190). Insofern sind die UDL-Leitlinien mit den entsprechenden Prompts wie auch die ergänzenden fachdidaktischen Hinweise zur Umsetzung im Fremdsprachenunterricht aus Sicht der Autoren ein gutes Hilfsmittel zur Realisierung von Inklusivem Fremdsprachenunterricht.

Damit dies gelingt, muss es aber sorgfältig angewendet werden: Wie die obenstehenden Ausführungen zeigen, kommt den Unterrichtenden die Aufgabe zu, stets diagnostisch sensibel zu sein, um Lernbarrieren identifizieren zu können. Weiter müssen sie abschätzen, welche Hürden unnötige Lernbarrieren und welche Hürden Lernbarrieren darstellen. Um diese identifizieren und reduzieren zu können, sind die fachdidaktischen Kompetenzen der Lehrpersonen von hoher Bedeutung: Die Auswahl geeigneter Umsetzungsmethoden bedingt umfangreiche, fachdidaktisch fundierte Überlegungen zur Passung mit den gegebenen Rahmenbedingungen. Und schließlich müssen die Umsetzungsmethoden auch noch auf die Unterrichtseinheit angewendet und deren Erfolg laufend überprüft werden. Das Instrument darf deshalb nicht als Rezeptbuch verstanden werden, aus dem einmal dies und einmal jenes ausprobiert werden soll, sondern als Hilfsmittel, welches die Unterrichtsplanung und die Unterrichtsreflexion unterstützen kann. Oder um es mit einer Metapher auszudrücken: Ebenso wenig wie ein Rennrad kein Garant für ein rasches Vorwärtskommen ist, ist das vorgestellte Hilfsmittel ein Garant für diversitätssensiblen Unterricht. Erst wenn die Leitlinien, Prompts und fachdidaktischen Umsetzungsvorschläge durch kompetente Lehrkräfte in einer sinnvollen Art und Weise genutzt werden, können sie ihre Wirkung entfalten.

Literaturverzeichnis

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[1] In den Versionen 1-2.3 der UDL-Leitlinien werden die Prompts als Checkpoint bezeichnet. In diesem Text wird im Hinblick auf die baldige Veröffentlichung der Version 3.0 bereits der Begriff «Prompt» verwendet.

[2] ADDIE steht für analyze, design, develop, implement, und evaluate. Vgl. Branch (2009).

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