Dr. Judith Buendgens-Kosten (Institut für England- und Amerikastudien, Goethe Universität Frankfurt)
Dr. Heike Niesen (Institut für England- und Amerikastudien, Goethe Universität Frankfurt)
Abstract
In diesem Beitrag diskutieren wir den Wert von First-Person-Accounts für die Fachdidaktik und die fachdidaktische Hochschullehre, insbesondere in Kontexten von Inklusion. Vorgestellt wird ein universitäres Lehr-/Lernformat, das sich der Neurodiversität als Heterogenitätsdimension annimmt und darauf ausgerichtet ist, angehende Fremdsprachenlehrkräfte hinsichtlich des Umgangs mit neurodivergenten Schülerinnen und Schülern zu professionalisieren.
1. Einleitung und Problemstellung: Fremdsprachliche Lehrerausbildung im Kontext von Inklusion
Die Diskussion um den Umgang mit Vielfalt in der Schülerschaft hat spätestens seit der Ratifikation der UN Behindertenrechtskonvention im Jahre 2009 an Dynamik gewonnen, sehen sich Schulen nun doch verpflichtet, im Sinne der Inklusion behinderte und nicht behinderte Schülerinnen und Schüler gemeinsam zu beschulen. So heißt es mit Blick auf das „Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung“, dass „Menschen mit Behinderung nicht aufgrund von Behinderungen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden“, „dass sie Zugang zu einem integrativen [inklusiven], hochwertigen […] Unterricht“ haben, sowie dass „innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“ (UN Behindertenrechtskonvention, Art. 24).
Eine theoretisch und empirisch fundierte Konzeption inklusiven Englischunterrichts, die die Förderbedarfe aller Schülerinnen und Schüler ernst nimmt, muss, wenn sie in der Praxis tragfähig sein soll, alle am Bildungsprozess Beteiligten mit einbeziehen, d.h. Lehrerbildnerinnen und Lehrerbildner, Lehrkräfte, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern. Dass dies bisher nicht in ausreichender Weise geschehen ist, macht folgende Äußerung deutlich:
Es liegt eine besondere […] Ironie in der Tatsache, dass die politische Entscheidung zur Umsetzung der allgemeinen Maßgabe der Inklusion im (gesamten!) Bildungswesen ein sehr exklusiver Prozess war. Er war und ist exklusiv auf der Ebene der politischen Entscheidungsträger gefällt worden, ohne Partizipation der Betroffenen, ohne ihre Perspektiven, ihre Bedürfnisse und vor allem ihre Expertise. […] Diese Partizipation muss in der Bildungspolitik […] dringend nachgeholt werden, weil sie alle Ebenen des Bildungssystems – von der Lehrerbildung bis zu den Schulbaurichtlinien – betrifft“ (Hallet, 2017, S. 88).
Das von Hallet diskutierte Versäumnis wird in diesem Beitrag in den Kontext der Lehrerbildung gestellt: Welche Rolle spielt die Vielfalt der Erfahrungen und subjektiven Theorien verschiedener Stakeholderinnen und Stakeholder für die Lehrerausbildung, insbesondere im Kontext des inklusiven Fremdsprachenunterrichts? Insbesondere diskutiert dieser Beitrag dabei die Rolle, die neurodivergente Personen in diesem Kontext spielen können.
2. Subjektive Theorien fremdsprachlichen Englischunterrichts im Kontext von Inklusion
Lehrkräfte treten Inklusion – wie jedem anderen Konzept auch – mit bestimmten Annahmen und Einstellungen entgegen. Diese „subjektiven Theorien“ (Viebrock, 2014) oder „berufsbezogene[n] Überzeugungen […] bringen zum Ausdruck, was eine Lehrperson glaubt, worauf sie vertraut, was sie für subjektiv richtig hält und mit welchen fachpädagogischen Ideen, Anschauungen, Weltbildern und Wertorientierungen – mit welchem Professionsideal – sie sich identifizieren“ (Reusser & Pauli, 2014, S. 644). Als „wesentliches Element von Professionalität“ (Viebrock, 2014, S. 75) besteht ein enger Zusammenhang zwischen subjektiven Theorien und unterrichtlichem Handeln, auch wenn die Art und Ausprägung dieses Zusammenhangs nach wie vor nicht unumstritten ist (Caspari, 2014). Mit anderen Worten: Zur erfolgreichen Umsetzung inklusiven Unterrichts braucht es die entsprechende Einstellung der Lehrkräfte.
Hier stellt sich die Frage, wo subjektive Theorien ihren Ursprung haben. Es gilt mittlerweile als unumstritten, dass sich subjektive Theorien bereits während der Schulzeit herausbilden. Dieses, als „apprenticeship of observation“ (Lortie, 1975) bekannte Phänomen erweist sich für angehende Lehrkräfte als nachhaltig prägend:
The apprenticeship of observation describes the phenomenon whereby student teachers arrive for their training courses having spent thousands of hours as schoolchildren observing and evaluating professionals in action.
Borg, 2004, S. 274
Wenn die subjektiven Theorien jedoch über die apprenticeship of observation schon während der Schulzeit mit angelegt werden, bedeutet dies im Gegenzug, dass neurotypischen Lehramtstudierenden, die einen nicht-inkludierenden Englischunterricht erfahren haben, wichtige Erlebnisse und Beobachtungen, die ihre subjektiven Theorien hätten prägen können, fehlen. Mit anderen Worten: Haben die angehenden Lehrkräfte in ihrer eigenen Schulzeit keine inklusiv unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer beobachten bzw. „erfahren“ können, so werden sie diese fehlenden Erfahrungen auch nicht in ihren Überzeugungsschatz aufnehmen. Das reine Rezipieren der Schulerfahrungen anderer – etwa neurodivergenter (ehemaliger) Lernerinnen und Lerner – kann diese Lücke nicht schließen, die Auseinandersetzung mit solchen “first hand“ Erfahrungen, in Kombination mit üblichen fachdidaktischen Lehr-/Lernmethoden, mag aber im besten Fall zu einer Bewusstmachung und Reflexion der eigenen subjektiven Theorien um neurodiversitäts-sensiblen und damit inklusiv(er)en Englischunterricht führen.
In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, wie die jeweils individuellen Erfahrungen und Perspektiven von (neurodivergenten) Stakeholderinnen und Stakeholdern (z.B. neurodivergente Aktivistinnen und Aktivisten, neurodivergente Expertinnen und Experten, neurodivergente Lernende, neurodivergente Lehrende, neurodivergente Forschende, neurodivergente Eltern, etc.) für die Lehrerbildung fruchtbar gemacht werden können. In einem Seminar zu Neurodiversitäts-bezogenen Heterogenitätsdimensionen im Englischunterricht sollten neurodivergente Personen als Expertinnen und Experten für ihr eigenes Lernen einbezogenen werden. Die Seminarkonzeption bezog sich dabei explizit auf Überlegungen und Forderungen des Disability Rights Movement sowie der Neurodiversitätsbewegung.
2. Die Neurodiversitätsbewegung
Unterschiede zwischen Menschen können auf vielen Faktoren beruhen. Einer dieser Faktoren kann neurologische Unterschiedlichkeit sein. Das Wort „Neurodiversität“ stammt historisch aus (autistischen) Selbsthilfe-Kontexten (Singer, 2017), und bezog sich historisch nur auf Autismus, wurde aber seitdem als Begriff erweitert, um auch andere Formen neurologischer Unterschiedlichkeit abzubilden.
Neurodiversität ist dabei sowohl ein Konzept, als auch die Selbstbezeichnung einer Bewegung.
Eine mögliche Definition von Neurodiversität, die die wertfreie Beschreibung von Unterschiedlichkeit betont, wäre etwa die folgende:
What we call the neurodiversity claim consists of at least two parts. One is related to the idea that there are indeed neurological (or brain-wiring) differences among the human population. Being autistic is one of them. One aspect of the neurodiversity claim is that autism (or some other neurological condition) is a natural variation among humans. Being neurodiverse or neurotypical (’normal‘) are just different ways of existing as humans. The second aspect of the neurodiversity claim is related to rights, non-discrimination and other more political issues.
Jaarsma & Welin, 2012, S. 21
Der Begriff ist der Versuch der Abgrenzung von einer rein klinischen Perspektive auf neurologische Andersartigkeit. Unterschiede, z.B. in der Verarbeitung von Sinnesreizen, sollen erst einmal wertfrei beschrieben werden (als Unterschiede statt als Defizite). Dies ist nicht der Versuch zu verneinen, dass neurologische Besonderheiten in konkreten Kontexten auch konkrete Herausforderungen bedeuten können, sondern eher das Bemühen, die Unterschiedlichkeit qua Unterschiedlichkeit nicht von vornherein negativ zu framen. Armstrong betont die Bedeutung einer solchen Loslösung von einer rein klinischen Perspektive auf Unterschiedlichkeit, hin zu einem Blick auf die besonderen Eigenschaften, Stärken und Bedürfnisse eines Schülers/einer Schülerin, speziell für den Unterricht:
The implications of neurodiversity for education are enormous. Both regular and special education educators have an opportunity to step out of the box and embrace an entirely new trend in thinking about human diversity. Rather than putting kids into separate disability categories and using outmoded tools and language to work with them, educators can use tools and language inspired by the ecology movement to differentiate learning and help kids succeed in the classroom.
Armstrong, 2012, S. 12
Die Neurodiversitätsbewegung kann analog zur Disability Rights Bewegung gesehen werden, also als eine Self-Advocacy Bewegung, die primär über politisch-soziales Engagement die Lebensbedingungen von neurodivergenten Menschen verbessern möchte.
Baker betont die gemeinschafts- und identitätsstiftenden Aspekte von Neurodiversität: „Fundamentally, neurodiversity asserts that neurological differences can be understood and experienced as much as a source of community and communal identity as can differences more routinely associated with politicized diversity, such as race, ethnicity, gender, religion, and sexual orientation“ (Baker, 2011, S. 20). Wie in der Deaf Community spielen auch Überlegungen und Bestrebungen in Bezug auf Neurodivergente Kultur(en) (analog zur Deaf Culture) eine Rolle in der Neudiversitätsbewegung (Decker, 2015). Eine solche Perspektive würde dann natürlich auch die Frage nach der Repräsentation verschiedener Neurodivergenter Kultur(en) in Lehrbüchern, Lektüren, etc. aufwerfen – eine Diskussion, wie sie in Bezug auf Heterogenitätsdimensionen wie beispielsweise Geschlechtsidentität, sexuelle Orientierung oder ethnische, kulturelle und sprachliche Vielfalt und deren Repräsentanz in Lehrmaterialien, bereits vielfach geführt wird (z.B. Bittner, 2011).
Neben Forderungen nach einem selbstbestimmten Leben, körperlicher Unversehrtheit, gesellschaftlicher Akzeptanz, Zugang zum Arbeitsmarkt etc. sind Forderungen in Bezug auf den Zugang zu Bildung Kernthemen der Neurodiversitätsbewegung.
In der Fachdidaktik sind Neurodiversität als Konzept bzw. Positionen der Neurodiversitätsbewegung bisher kaum angelangt. Fachdidaktische Texte betrachten in der Regel einzelne Formen neurologischer Andersartigkeit, ausdifferenziert nach klinischen Diagnosen. Bestimmte Formen (z.B. Dyslexie) stehen dabei stärker im Fokus der Fachdidaktik als andere (z.B. Autismus oder Schizophrenie, auch wenn beide mit konkreten Herausforderungen in Bezug auf die (fremdsprachliche) Kommunikation assoziiert sein können). Sehr wenige (fach-)didaktische Texte beziehen sich explizit auf eine Neurodiversitätsperspektive (eines der wenigen Beispiele hier wäre Armstrong, 2012). Im Gegenteil, fachdidaktische Literatur im Kontext neurologischer Unterschiedlichkeit ist in aller Regel defizitorientiert. Dies ist insofern überraschend, als dass Konzepte aus der Neurodiversity-Bewegung sehr gut an aktuelle Diskurse zu Heterogenität andocken könnten. Dies wollen wir im Folgenden anhand des Potentials von „Nothing about us without us“, einem Konzept aus dem Disability Rights Movement das auch in der Neurodiversitätsbewegung einen festen Platz gefunden hat, weiter diskutieren.
3. Nothing about us without us
Der Slogan „Nothing about us without us“ stammt vermutlich aus den frühen 1990er Jahren (Charlon, 1998, S. 14). Er beinhaltet eine Kernforderung des Disability Rights Movements, nämlich die Forderung nach Teilhabe am Diskurs über Behinderung und die Bedürfnisse und Rechte von Behinderten:
Only in the past twenty-five years has this condition [of dependency, Ergänzung der Autorinnen] begun to change. Although little noticed and affecting only a small percentage of people with disabilities, this transformation is profound. For the first time in recorded human history politically active people with disabilities are beginning to proclaim that they know what is best for themselves and their community. This is a militant, revelational claim aptly capsulized in “Nothing About Us Without Us”.
Charlton, 1998, S. 4
Diese Forderung nach „Nothing about us without us“ bzw. „Redet nicht über uns, redet mit uns!“ (Knauerhase, 2014, S. 167, fett und kursiv im Original) wird auch von neurodivergenten Aktivist/innen vertreten.
Garrick, Winter, Sani, und Buxton (2015), die aus einer poststrukturalistischen Perspektive die Planung eines Lehrerbildungsseminars zu Diversity (mit Fokus auf Autismus) diskutieren, benennen das Potenzial, das sich ergibt, wenn mehrere Perspektiven in der Hochschullehre zu Diversity zusammengebracht werden:
There is room to speak back to, speak with, and to speak against what is established by using the possibilities that data provide, the language that parents and teachers provide, and the learning that the academic/s responsible for each course on diversity have undertaken in consultation with others. Examples of possibilities are replete in the data and range from simply listening to all stakeholders, to using the legitimation codes as a means of activism.
Garrick et al., 2015, S. 133
In der Fachdidaktik und in der fachdidaktischen Hochschullehre wird über die Bedürfnisse und Rechte von Schülerinnen und Schülern in Schulkontexten gesprochen, oft ohne dabei diese Lernende zu Wort kommen zu lassen. Dabei besteht das Risiko, dass Lernende zu Objekten, statt Subjekten, des fachdidaktischen Diskurses werden. Sie sind indirekt im Diskurs vertreten, insofern Forschenden sowie Rezipientinnen und Rezipienten von Forschung in aller Regel ehemalige Schülerinnen und Schüler sind, haben jedoch selber kaum eine Stimme. Selbst Garrick et al. (2015) z.B. ziehen es nicht in Betracht, selbst betroffene Personen als Stakeholderinnen und Stakeholder direkt einzubeziehen.
Dies stellt eine Schwachstelle der (fachdidaktischen) Forschung dar. Csizér, Kormos und Sarkadi betonen von einer Second Language Acquisition (SLA) Warte aus: „the students themselves have rarely been asked about their experiences in language learning. In order to overcome the problems that LDs [learning disabilities, Anmerkung der Autorinnen] cause in learning another language, however, it is important to listen to the students’ own voices, because understanding them is the first step toward developing effective instructional programs“ (Csizér et al., 2010, S. 470f.).
Dies kann insbesondere dann problematisch werden, wenn es um Lernende geht, die marginalisierten Gruppen angehören. Hier kommt es zu einer doppelten Objektifizierung: Als Lernerin bzw. Lerner und als marginalisierte Person. Die Herausforderung ist hier, gezielt marginalisierte Stimmen in den Diskurs einzubeziehen: Die Stimmen von neurodivergenten Lernenden, von neurodivergenten ehemaligen Lernenden, sowie von weiteren neurodivergenten Stakeholderinnen und Stakeholdern (z.B. auch in der Rolle als Lehrkräfte oder Forschende). Dies kann auch in indirekter Weise geschehen, z.B. durch Fachtexte oder literarische Texte, die von Angehörigen dieser Gruppen verfasst wurden (z.B. zum Thema Autismus: Bascom, 2012; Schreiter, 2014; Yergeau, 2018), oder als Minimalforderung durch Forschung, die die Stimmen dieser Gruppen ernst nimmt und einbezieht (siehe z.B. Kenny et al., 2016; Csizér et al., 2010).
Im folgenden Kapitel werden wir diskutieren, welche Rolle neurodivergente Personen als Expertinnen und Experten für ihr eigenes Lernen, ihre eigenen Bedürfnisse und ihre eigenen Forderungen, in der Lehrerbildung spielen können.
4. Einsatz von Expertinnen und Experten für das eigene Lernen in der fachdidaktischen Hochschullehre
Das Neurodiversitätskonzept lädt dazu ein, neurologische Unterschiedlichkeit erst einmal wertfrei als Form von Heterogenität zu betrachten, die im inklusiv gedachten Englischunterricht so berücksichtigt wird, dass aus ihr keine Benachteiligung für den Lernprozess entsteht. Wie bereits oben angedeutet, werden wenige angehende Lehrkräfte im Rahmen ihrer “Apprenticeship of Observation“ positiven, nicht defizit-orientierten Umgang mit neurodivergente Mitschülerinnen und Mitschülern erlebt haben, und können in den meisten Fällen auch nicht auf eigene Erfahrungen mit neurologischer Unterschiedlichkeit zurückgreifen. Hier besteht also Bedarf, andere Perspektiven und anderes Erleben des Unterrichts kennen zu lernen. Gleichzeitig wäre es politisch und ethisch wünschenswert, Stimmen neurodivergenter Menschen direkt einzubeziehen, um, wie bereits oben ausgeführt, existierende Marginalisierungen nicht zu verstärken.
Dieser Beitrag entstand aus dem Versuch, eine Lehrveranstaltung in der Fachdidaktik Englisch zum Thema „Neurodiversity in the EFL classroom“ nach außen zu öffnen, und bewusst neurodivergente Stimmen in die Veranstaltung zu holen. Dies sollte auf zwei Ebenen geschehen: Der Verwendung von Texten von neurodivergenten Autorinnen und Autoren, sowie der Einladung von neurodivergenten Expertinnen und Experten für ihr eigenes Lernen. Im Folgenden soll der Schwerpunkt auf das zweite Element gelegt werden.
Wir sahen in diesem Format, neben politischen/ethischen Aspekten, auch eine Reihe von praktischen Potentialen. Studierende würden neurodivergente Menschen als Expertinnen und Experten für ihr eigenes Lernen erleben, sie würden Ressourcen und Methoden kennenlernen, die von neurodivergenten Menschen als sinnvoll angesehen werden, und sie würden einüben, respektvoll über neurologische Unterschiedlichkeit zu sprechen.
Verschiedene Formate der Beteiligung sollten möglich sein, d.h. Expertinnen und Experten würden nicht notwendigerweise ein Fachreferat halten oder einen Workshop durchführen, sondern auch Fragerunden, Feedback zu Gruppenarbeiten, etc. wären denkbare Formate. Expertinnen und Experten wären in diesem Sinne keine reinen Lieferantinnen bzw. Lieferanten einer Dienstleistung („Workshop“), sondern aktive Mitgestaltende ihrer Rolle in der Veranstaltung.
Jede Öffnung nach außen beinhaltet natürlich auch Risiken. Der Besuch von externen Experten und Expertinnen muss vor- und nachbereitet werden. Sitzungen mit Experten und Expertinnen lassen sich oft nicht so genau planen wie nur von Dozierenden gestaltete Sitzungen, eine gewisse zeitliche Flexibilität ist also notwendig.
Zum Lernen gehört es auch, Fehler zu machen. In einem guten Seminar sollte es möglich sein, auch Risiken mit seinen (z.T. auch auf das eigene Leben bezogenen) Äußerungen einzugehen. Um die Veranstaltung zu einem ’safer‘ space für Studierende und externe Experten und Expertinnen zu machen, folgte diese Veranstaltung den Chatham House Rules, d.h. „Teilnehmern (ist) die freie Verwendung der erhaltenen Informationen unter der Bedingung gestattet, dass weder die Identität noch die Zugehörigkeit von Rednern oder anderen Teilnehmern preisgegeben werden dürfen“ (Chatham House, n.d.).
Einige Herausforderungen sind mit der Öffnung eines Seminars für die Stimmen marginalisierter Gruppen verbunden. Ein Aspekt ist, dass Leistung – gerade beim Einbezug marginalisierter Gruppen – bezahlt werden sollte. Ein häufiger Kritikpunkt innerhalb der Disability Rights Bewegung ist die Beobachtung, dass Beiträge von Behinderten nicht auf die gleiche Art honoriert werden wie Beiträge von Able-Bodied Individuen. Gerade für Angehörige marginalisierter Gruppen ist die Fähigkeit zu ehrenamtlicher Arbeit oft durch ökonomische Sachzwänge eingeschränkt. Eine Bezahlung – zumindest im für Gastvorträge üblichen Rahmen – ist daher nicht nur eine grundlegend zu stellende ethische Forderung, sondern auch ein wichtiges Signal an die angesprochenen Communities.
Eine weitere Herausforderung liegt in der Frage, wer unter das „us“ in „Nothing about us without us“ zu fassen ist. Interessensvertretungen wurden historisch oft eher von Eltern neurodivergenter Schülerinnen und Schülern gegründet, so dass viele einschlägigen Selbsthilfegruppen oder Interessensvertretungen traditionell durch nicht-neurodivergente Personen geleitet werden. Diese Gruppen können selbstverständlich hervorragende Arbeit leisten und bereichernde Inputs in einem Seminar geben, nicht-neurodivergente Vertreterinnen und Vertretern solcher Gruppen erfüllen jedoch nur eingeschränkt die Forderung von „Nothing about us without us“. Ähnliches gilt z.B. für Erziehungsberechtigte von neurodivergenten Lernenden, die sehr wertvolle Perspektiven beitragen können (z.B. die Elternperspektive auf häusliche Vor- und Nachbereitung von Unterricht), die aber, soweit sie selber nicht neurodivergent sind, ebenfalls die oben genannte Forderung nicht erfüllen können. In der Praxis bedeutet dies aber, dass die Rekrutierung von Expertinnen und Experten ohne persönliche Kontakte sehr anspruchsvoll sein kann, und auch im vorliegenden Seminar nicht zu dem Grad gelang, wie es wünschenswert gewesen wäre.
Die inhaltliche Evaluation des Seminars erfolgte durch eine abschließende Focus Group Diskussion mit den Studierenden. Die Studierenden gaben an, dass sich das gewählte Format eigne, mit Neurodiversität einhergehende unterrichtspraktische Herausforderungen zu erkennen und perspektivisch anzugehen:
Ja ich denk auch die Experten haben uns für bestimmte Bereiche halt sensibilisiert […] und auch bestimmte Probleme und Herausforderungen aufmerksam gemacht und dann fand ich da an sich schön die Struktur von der Lehrveranstaltung dass wir dann […] hier immer noch am Ende noch eine kleine Phase hatten wo wir dann uns überlegt haben wie könnten wir das jetzt konkret fördern im Unterricht und wie könnte man Materialien erstellen […]
Aus der Analyse ergab sich ebenfalls, dass aus Sicht der Studierenden die Perspektiven der eingeladenen Expertinnen und Experten maßgeblich zu einer Bewusstmachung und Überwindung eigener, meist defizitorientierter subjektiver Theorien beigetragen haben:
[…] ich kann immer nur mich als Beispiel LRS nehmen. Ich hätte […] immer das Gefühl dass die Kinder teilweise faul sind und ich hatte so eine Gegnerhaltung teilweise und so hat man wirklich auch den Respekt vor dem Individuum auch […] bekommen, gerade bei Autismus und so.
Hierbei muss aber berücksichtigt werden, dass neben neurodivergenten Expertinnen und Experten auch andere Stakeholderinnen (z.B. Vertreterinnen von Selbsthilfegruppen und Verbänden, ein Elternteil eines neurodivergenten Kindes sowie eine Inklusionshelferin) als Expertinnen beteiligt waren. In der Focus Group zeigte sich, dass in dieser konkreten Seminaraufstellung es nicht unbedingt Aussagen von direkt selbstbetroffenen Personen, die aus der Ich-Perspektive sprachen, waren, die am stärksten beeindruckten, sondern z.B. abstrakte, dramatische Schilderungen der emotionalen und sozialen Folgen für Schülerinnen und Schüler, oder ein emotionales Statement einer Mutter eines neurodivergenten Kindes:
Also zum einen […] hat es mich bewegt oder fasziniert, dass […] so eine LRS-Schwäche wirklich eine Depression für so ein Kind hervorrufen kann bis hin zur Schulangst, Schulabbruch, Schulverweigerung ähm aber auch wie gesagt dieser Fakt dass jeder ja wirklich auch ein Recht auf inklusives, auf eine inklusive Beschulung hat und auch die Mutter meinte ja dann sie hat sich es ja auch nicht ausgesucht ein autistisches Kind zu haben.
5. Fazit
In diesem Artikel haben wir argumentiert, dass eine Neurodiversitätsperspektive auf neurologische Unterschiedlichkeit, die z.B. Autismus, AD(H)S oder Dyslexie wertfrei als Formen von Heterogenität betrachtet, eine sinnvolle Perspektive für den inklusiven Englischunterricht darstellen kann. Wir haben außerdem argumentiert, dass „Nothing about us without us“ eine wichtige Forderung ist, die bisher kaum in der fachdidaktischen Ausbildung berücksichtigt wird – obwohl die praktische Umsetzung dieser politisch/ethischen Forderung durchaus Vorteile für die fachdidaktische Hochschullehre haben kann. Wir haben erste Überlegungen zur Einbindung von neurodivergenten Expertinnen und Experten für ihr eigenes Lernen präsentiert, und auf praktische Herausforderungen bei der Implementierung hingewiesen.
Dieser Beitrag versteht sich dabei als eine Einladung zum Diskurs zu diesen Themen – eine Einladung, die auch explizit an neurodivergente Menschen als Expertinnen und Experten für ihr eigenes Lernen gerichtet ist.
Literatur
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