In der Reihe „Inklusion im Fremdsprachenunterricht bedeutet für mich …“ stellen die Mitglieder des Netzwerks Inklusiver Englischunterricht ihre ganz persönliche Sicht auf Praxis und Forschung zum inklusiven Englischunterricht vor.
Heute: Sophie Engelen, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Inklusiver Fremdsprachenunterricht bedeutet für mich…
… sich immer wieder auf theoretisch-konzeptioneller Ebene mit dem Begriff des „inklusiven Fremdsprachenunterrichts“ auseinanderzusetzen. Auch wenn das deutsche Schulsystem von der Idee einer „fiktiven Homogenität“ (Tillmann 2004: 9) der Schülerschaft geprägt ist, so haben schulisches Lernen und somit der Fremdsprachenunterricht schon immer in einem heterogenen Umfeld stattgefunden. Folglich wird individuellen Voraussetzungen und Unterschieden beim Fremdsprachenlernen eine große Rolle zugeschrieben, was sich in – nach wie vor aktuellen – Grundannahmen und Konzepten der Fremdsprachendidaktik wie der „Faktorenkomplexion des Fremdsprachenunterrichts“ (Bausch et al. 1982), der „Einzelgängerhypothese“ (Riemer 2001) oder der „Lernerorientierung“ widerspiegelt. In dem Anspruch, alle Lernenden gemäß ihrer kognitiven, affektiven, biologischen und sozialen Voraussetzungen zu fordern und zu fördern, sehe ich einen „weiten“ Inklusionsbegriff verortet. Seit der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention (2008) in Deutschland erweitert sich das Spektrum individueller, lernerseitiger Einflussfaktoren im Unterricht dahingehend, dass Schüler/innen mit geistigen, emotional-sozialen und körperlichen Beeinträchtigungen den Fremdsprachenunterricht an Regelschulen besuchen, die zuvor – gemäß ihrem jeweiligen Förderschwerpunkt – spezialisierte Schulen besucht haben (vgl. Mendez 2012). Hier greift für mich ein „enger“ Inklusionsbegriff, der vor dem Hintergrund aktueller Ansätze wie Response to Intervention kritisch gesehen werden muss, da die jeweilige Beeinträchtigung erst deutlich ausgeprägt sein und diagnostiziert werden muss, bevor adäquate Fördermaßnahmen ergriffen werden bzw. das Kind in eine Inklusionsklasse aufgenommen wird (wait-to-fail). Lehrkräfte stehen vor diesem Hintergrund vor neuen Herausforderungen – auf vermeintlich homogene Lerngruppen abzielende Unterrichtskonzepte müssen endgültig überdacht werden. Zugleich bietet sich die Möglichkeit, an bereits etablierte didaktische Konzepte wie Handlungs- und Aufgabenorientierung, innere Differenzierung und formative Evaluation anzuknüpfen. Langfristig habe ich den Wunsch, dass wir auch in Deutschland zu einem weiten Inklusionsbegriff kommen, der gemeinsames Lernen und präventiv ausgerichtetes, pädagogisches Handeln unbürokratisch ermöglicht und von dem Bewusstsein gespeist wird, dass die Diversität unserer Gesellschaft eine Stärke ist, die es wertzuschätzen und zu nutzen gilt.
… das erweiterte Heterogenitätsspektrum im Fremdsprachenunterricht für die gesamte Lerngruppe nutzbar zu machen, denn das besondere Potential inklusiven Fremdsprachenlernens liegt in dem gemeinsamen Lernen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne besonderen Förderbedarf. Dies impliziert, dass für den Fremdsprachenunterricht Bildungsziele formuliert werden, die an die fremdsprachliche und interkulturelle Ausbildung der Schüler/innen anknüpfen und zugleich über sie hinausgehen. Durch offene Unterrichtskonzepte, kooperative Lernformen oder die Arbeit an einem gemeinsamen Gegenstand (z.B. Feuser 1998) kann jede/r Schüler/in im Rahmen ihrer/seiner Möglichkeiten zum Lern- und Gestaltungsprozess eines gemeinsamen Arbeitsproduktes beitragen bzw. individuelle Lernziele erreichen; dies ist an eine gezielte Schulung methodischer Kompetenzen der Schüler/innen zu knüpfen. Auf der Ebene der Unterrichtsinhalte können Aspekte gesellschaftlicher Diversität (z.B. Mehrsprachigkeit, Behinderungen und Begabungen etc.) in den Fokus gerückt werden.
… dass die Unterrichtsplanung und -gestaltung möglichst an die individuellen Bedürfnisse (nicht nur) der beeinträchtigten Schüler/innen angepasst wird. Dies kann beispielsweise den Einsatz technischer Hilfsmittel insbesondere bei hör- oder sehgeschädigten Schüler/innen bedeuten; für Schüler/innen mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten kann bei der Materialauswahl und -gestaltung auf eine größere, serifenfreie Schrift mit ausreichend großem Zeilenabstand und reduzierte Visualisierungen geachtet und vermehrt multisensorisches Arbeiten und Übungen zur Automatisierung angeboten werden (vgl. Reimann 2014); eine reizarme Arbeitsumgebung und häufige Pausen mit Gelegenheit zur Bewegung kommen Schüler/innen mit AD(H)S entgegen (vgl. Mendez 2012) usw.
… dass über gezielte und umfassende Investitionen auf institutioneller Ebene bestimmte Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen, die eine erfolgreiche Inklusionsarbeit an Schulen erst ermöglichen (vgl. Speck 2015, 68). Dazu zählen beispielsweise eine adäquate räumliche und technisch-mediale Ausstattung, die Verfügbarkeit passender Unterrichtsmaterialien und, die Möglichkeit zum Team-Teaching bzw. zur Bildung multiprofessioneller Teams von Lehrkräften mit förderpädagogischem, lerntherapeutischem oder psychologisch geschultem Fachpersonal.
… dass Lehrkräfte in den drei Phasen ihrer Ausbildung die Möglichkeit bekommen, „anschlussfähige allgemeinpädagogische und sonderpädagogische Basiskompetenzen für den professionellen Umgang mit Vielfalt in der Schule, vor allem im Bereich der pädagogischen Diagnostik und der speziellen Förder- und Unterstützungsangebote“ (KMK 2015, 3) zu entwickeln und auf die Arbeit in interdisziplinären Teams vorbereitet werden, um diese kooperativ und gewinnbringend gestalten zu können.
Literaturhinweise
Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Hüllen, Werner & Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.) (1982): Das Postulat der Lernerzentriertheit. Rückwirkungen auf die Theorie des Fremdsprachenunterrichts. Bochum: Brockmeyer.
KMK (2015): Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt. Gemeinsame Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz. Online unter: http://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen _beschluesse/2015/2015_03_12-Schule-der-Vielfalt.pdf (abgerufen am 28.07.2017)
Feuser, Georg (1998): „Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand.“ In: Hildeschmidt, Anne & Schnell, Irmtraud (Hrsg.): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim: Juventa, 19-35.
Mendez, Carmen (2012): „Inklusion im Fremdsprachenunterricht. Herausforderung und Chance.“ In: Praxis Fremdsprachenunterricht 9 (1), 5-8.
Reimann, Daniel (2014): „Legasthenie im Französischunterricht. Symptomatik – Maßnahmen – Perspektiven.“ In: Praxis Fremdsprachenunterricht Französisch 2, 8-12.
Riemer, Claudia (2001): „Die Einzelgänger-Hypothese. Ein Beitrag zur Erforschung individueller Unterschiede im Fremdsprachenerwerb.“ In: Bayrhuber, Horst; Finkbeiner, Claudia; Spinner, Kaspar H. & Zwergel, Herbert A. (Hrsg.): Lehr- und Lernforschung in den Fachdidaktiken. Forschungen zur Fachdidaktik. Vol 3. Innsbruck: StudienVerlag, 141-150.
Speck, Otto (2015): „Positionsartikel. Das schulpolitische Inklusionsdilemma in Deutschland. Die Verabschiedung des Inklusionsgesetzes im Deutschen Bundestag und deren Folgen.“ In: Heilpädagogische Forschung 41 (2), 62-69.
Tillmann, Klaus-Jürgen (2004): „System jagt Fiktion. Die homogene Lerngruppe.“ In: Friedrich Jahresheft 23, 6-9.